Lebenspraktische Fähigkeiten und die neuen Möglichkeiten durch das BTHG

von Dr. Michael Richter (rbm)

Einen Großteil meines nunmehr zwanzig Jahre währenden Berufslebens in der Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe hat mich die Frage beschäftigt, wie es uns gelingen kann, es endlich zu schaffen, dass Menschen nach Erblindung oder einer massiven Sehverschlechterung einen Anspruch auf diese wichtige Rehabilitationsleistung erhalten. Maßgeblich war an diesen Bemühungen Dr. Herbert Demmel beteiligt, dem ich anlässlich seines bevorstehenden 90. Geburtstages diesen Artikel, verbunden mit dem Dank für dessen unermüdlichen Einsatz um die rechtliche Etablierung von Rehabilitationsrechten blinder und sehbehinderter Menschen bis heute, widmen möchte.

Unstreitig - und inzwischen wohl auch durch Studien belegt - dürfte sein, dass die Schulung Lebenspraktischer Fähigkeiten (LPF) ein wichtiger Baustein ist, um die Folgen nach einer Erblindung oder massiven Sehverschlechterung abzumildern, häufig dazu beiträgt, Selbstständigkeit und dadurch Selbstbestimmtheit zu erhalten, und nicht selten sogar den Verbleib im eigenen Wohnumfeld nach dem Behinderungserwerb erst ermöglicht. Plötzlich ist genau ein solcher Anspruch auf diese Leistung für einen Großteil der betroffenen Menschen gegeben, und ich habe das Gefühl, dass diese Erkenntnis bei potenziellen Ansprechpartner*innen für die Betroffenen, wie z. B. Augenärztinnen und Augenärzten, Beratungsstellen, Reha-Lehrerinnen und Reha-Lehrern etc., überhaupt noch nicht angekommen ist. Grund genug, dieser sehr wichtigen Leistung wieder einmal Aufmerksamkeit zu schenken und sich der nun entstandenen Rechtslage intensiver zu widmen.

Vor dem Blick auf die nunmehr geänderte Rechtslage erscheint es jedoch sinnvoll, in aller gebotenen Kürze auf die Entwicklung dieser Leistung zurückzuschauen, um die geschilderten Bemühungen der Selbsthilfe und die aktuelle Rechtslage richtig einordnen zu können.

LPF-Schulung und die Suche nach dem Kostenträger: Anfänge und Entwicklungen

Vor nunmehr ca. 50 Jahren brachten Pioniere der Rehabilitation von blinden- und hochgradig sehbehinderten Menschen - wie das Ehepaar Pamela und Dennis Cory oder Jochen Fischer - das Langstocktraining aus den USA nach Deutschland und etablierten diese Leistung zunächst eher an „Blindenschulen“, z. B. der blista. Die Frage nach dem Kostenträger war schnell beantwortet, da die neu gewonnene Mobilität unseres Personenkreises mit dem Einsatz eines damals „neuen Hilfsmittels“, dem Blindenlangstock, untrennbar verbunden war und der Blick in das Recht der gesetzlichen Krankenkassen verriet, dass ein Anspruch auf ein benötigtes Hilfsmittel mit dem Anspruch auf die Unterweisung in dessen Gebrauch verbunden ist (§ 33 SGB V). Als dann ca. zehn Jahre später – wiederum aus den USA - die weitere Erkenntnis „importiert“ wurde, dass es für ein möglichst selbstbestimmtes und eigenständiges Leben blinder und hochgradig sehbehinderter Menschen mehr bedarf als der Teilnahme an einem ausführlichen Orientierungs- und Mobilitätstraining und dass in diesem Sinne eine ergänzende Schulung weiterer lebenspraktischer Fähigkeiten hierfür geradezu notwendig erscheint, erfolgte bei der Suche nach einem geeigneten Kostenträger wieder der „reflexartige“ Blick in das SGB V - diesmal allerdings mit der Erkenntnis, dass es kein typisches Hilfsmittel im Bereich des LPF-Unterrichtes gibt und dementsprechend diese Leistung auch nicht auf den „Hilfsmittelparagrafen“ gestützt werden kann.

Unter dem Aspekt der offensichtlichen Notwendigkeit einer solchen Leistung, dem Grundgedanken, dass ja auch nach anderen einschneidenden Erkrankungen eine medizinische Reha im Recht der gesetzlichen Krankenkassen vorgesehen ist, und der Erkenntnis, dass als alternative Leistungsträger allenfalls die Sozialämter mit ihren damals extrem restriktiven Einkommens- und Vermögensgrenzen in Betracht kamen und hierdurch nur ein sehr kleiner Personenkreis überhaupt anspruchsberechtigt gewesen ist, starteten die Bemühungen der Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe für die Schaffung einer Rechtsgrundlage für den Anspruch auf LPF-Schulung oder eine „Grund-Reha nach Sehverlust“ im Recht der gesetzlichen Krankenversicherungen.

2006 führten diese Bemühungen sogar zu einem Teilerfolg, denn der Verband der Ersatzkassen gab eine Empfehlung heraus, nach der Krankenkassen für den Fall der Erblindung von Erwachsenen 20 Stunden „Schulung von sensomotorisch perzeptiven Fähigkeiten“ gewähren sollten. Allerdings war es eben nur ein Teilerfolg, denn zum einen handelte es sich um eine sogenannte „Kann-Leistung“ - d. h. um keinen wirklich einklagbaren Rechtsanspruch -, und zum anderen schlossen sich dieser Empfehlung bei Weitem nicht alle gesetzlichen Krankenkassen an, beispielsweise die allgemeinen Ortskrankenkassen lehnten generell eine Kostenübernahme für LPF-Unterricht weiterhin strikt ab. Letztlich muss man, selbst als Vertreter der Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe, einräumen, dass die ablehnende Auffassung auch der gegebenen Rechtslage näherkommt als die einschlägige Empfehlung, denn zum einen wurde der in der Empfehlung offensichtlich merkwürdig verklausulierte LPF-Unterricht in § 43 SGB V verortet, wo unter der Überschrift „Ergänzende Leistungen“ verschiedene, sogenannte „Annexleistungen“ aufgeführt sind. Eine „ergänzende Leistung“ setzt aber sprach- und denknotwendig eine Hauptleistung voraus, und es stellt sich bereits die nicht sinnvoll zu beantwortende Frage, welche Leistung dies denn sein könnte. Zum anderen stellt man bei genauerer Beschäftigung mit dem Krankenkassenrecht fest, dass LPF-Schulungen auch unter dem Aspekt des Leistungserbringers (Reha-Lehrer*innen) systematisch nicht wirklich in das Recht der gesetzlichen Krankenkassen passen, denn Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen werden regelmäßig nur durch sogenannte anerkannte Heilberufe (Ärzte, Psycho-, Physio-, Ergotherapeutinnen und -therapeuten, Kranken- und Altenpfleger*innen etc.) erbracht, und hiervon gibt es nur genau eine Ausnahme im Bereich der Hilfsmittelversorgung, die für LPF aber gerade – wie gezeigt – nicht einschlägig ist. Übrigens ist die verklausulierte Benennung der Leistung als „Schulung der sensomotorisch perzeptiven Fähigkeiten“ vermeintlich dem Umstand geschuldet, dass die die Empfehlung unterstützenden Krankenkassen wenigstens den Anschein einer medizinischen Leistung aufrechterhalten und diese entsprechend eher im Bereich der „Ergotherapie“ verorten wollten. Aufgrund der Tatsache, dass bereits in der Empfehlung selbst die Leistung für Minderjährige ausgeschlossen ist, verstärkten sich die Bemühungen der Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe gerade für diesen Bereich, denn das Bewusstsein um die Wichtigkeit dieser Leistung gerade für inklusiv beschulte Kinder und Jugendliche, denen nicht selten ein Defizit im Bereich des Erwerbs von Selbstständigkeit droht, war vorhanden. Im Ergebnis konnte, u. a. durch die Unterstützung Betroffener durch die Rechtsberatungsgesellschaft "Rechte behinderter Menschen" (rbm), bei der Durchsetzung von LPF-Unterricht als wichtiger Teil des sog. 2. Kurrikulums für Schüler*innen mit dem Förderschwerpunkt „Sehen“ in einigen klarstellenden Urteilen verschiedener Sozialgerichte Rechtssicherheit hergestellt werden, und der LPF-Unterricht wurde als Leistung der angemessenen Schulbildung im Sinne von § 54 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII (alte Fassung) anerkannt, inklusive der dazugehörigen Privilegierung gem. § 92 Abs. 2 SGB XII, d. h. in der Regel unabhängig vom Einkommen und Vermögen der Eltern (Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 12.09.2008 – S 22 (29) SO 7/07 und Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 21.07.2009 – S 2 SO 46/09).

Anspruch auf LPF und der Eigenbetrag: Reformen und Berechnungen seit 1. Januar 2020

Seit dem 01.01.2020 gilt aber nun ein neues Eingliederungshilferecht im Zuge der mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) verabschiedeten Reformen. Neben dem Umzug des Eingliederungshilferechtes aus dem SGB XII in den 2. Teil des SGB IX wurden mit der Reform insbesondere die Bedingungen für den Einsatz von Einkommen und Vermögen völlig neu geregelt. Kurz gesagt gilt seit dem 01.01.2020 für den Einsatz von Einkommen und Vermögen das Folgende:

Es wird nicht mehr auf das bereinigte Nettoeinkommen der Bedarfsgemeinschaft abgestellt, das dem aus den Eckregelsatzbeträgen und Kosten der Unterkunft ermittelten Einkommensfreibetrag gegenübergestellt wird. Vielmehr ist für die Ermittlung des Eigenbeitrages allein das Bruttoeinkommen maßgeblich. Auf die individuelle Situation (z. B. hohe behinderungsbedingte Unterkunftskosten in Ballungsräumen) kommt es nicht mehr an. Konkret heißt es in § 135 Abs. 1 SGB IX:

„Maßgeblich für die Ermittlung des Beitrages nach § 136 ist die Summe der Einkünfte des Vorvorjahres nach § 2 Absatz 2 des Einkommensteuergesetzes sowie bei Renteneinkünften die Bruttorente des Vorvorjahres.“

Berücksichtigt wird nur das Einkommen der antragstellenden Person selbst und bei Minderjährigen dasjenige der Eltern. Das Einkommen und Vermögen des Partners wird seit 2020 nicht mehr herangezogen.

Zunächst wird nunmehr der individuelle Einkommensfreibetrag ermittelt. Dieser ist allein abhängig von der Art des Einkommens und vom Familienstand (§ 136 Abs. 2 ff. SGB IX). Als Bezugsrahmen für die Ermittlung des Einkommensfreibetrages dient die sogenannte Sozialversicherungsbezugsgröße nach § 18 SGB IV. Diese wird jährlich festgesetzt und beträgt 2021 ca. 40.000 €. Eine Heranziehung findet erst statt, wenn Einkommen oberhalb des jeweils geltenden prozentualen Anteils der jährlichen Bezugsgröße nach § 18 Abs. 1 SGB IV erzielt wird (§ 136 SGB IX). Beispielsweise beträgt für sozialversicherungspflichtig Beschäftigte der Einkommensfreibetrag 85 % der Bezugsgröße, d. h. bei einem alleinstehenden, versicherungspflichtigen Beschäftigten würde aktuell erst ab einem Einkommen von ca. 34.000 € ein Eigenbeitrag für Leistungen der Eingliederungshilfe fällig. Bei nicht sozialversicherungspflichtigem Einkommen (z. B. durch Mieteinnahmen) beträgt der Freibetrag 75 % und bei Renteneinkommen 60 % der Bezugsgröße. Für unterhaltsberechtigte Kinder, für Partner mit niedrigerem Einkommen oder bei minderjährigen Leistungsberechtigten erhöht sich der Freibetrag entsprechend den Vorgaben des § 136 Abs. 3 ff. SGB IX.

Darüber hinaus sind von dem die Einkommensgrenzen übersteigenden Jahreseinkommen jedoch auch nur 2 % als monatlicher Beitrag aufzubringen (§ 137 SGB IX), im Ergebnis also keinesfalls mehr als 24% des die Grenzen übersteigenden Jahreseinkommens. Weiterhin wurde der Vermögensfreibetrag 2020 auf 150 % der jährlichen Bezugsgröße (§ 139 SGB IX) festgesetzt, d. h. 2021 beträgt der Vermögensfreibetrag in der Eingliederungshilfe mithin ca. 60.000 €.

Beispielsrechnung: Ein alleinstehender Rentner mit einer Jahresrente von 30.000 € hätte monatlich einen Eigenbeitrag von 120,00 € zu benötigten Eingliederungshilfeleistungen zu leisten (30.000 € – 24.000 € = 6.000 € (überschießendes Einkommen), davon 2 % = 120,00 €).

Über diese erfreulichen Veränderungen hinaus, die einem vielfach größeren Personenkreis den Zugang zu Leistungen der Eingliederungshilfe eröffnen dürften, findet nun aber auch die LPF-Schulung im Wortlaut neuer Vorschriften ausdrücklich Berücksichtigung.

In § 113 Abs. 2 Nr. 5 SGB IX heißt es unter der Überschrift „Leistungen zur Sozialen Teilhabe“ nunmehr:

"(1) Leistungen zur Sozialen Teilhabe werden erbracht, um eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, soweit sie nicht nach den Kapiteln 3 bis 5 erbracht werden. Hierzu gehört, Leistungsberechtigte zu einer möglichst selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lebensführung im eigenen Wohnraum sowie in ihrem Sozialraum zu befähigen oder sie hierbei zu unterstützen. Maßgeblich sind die Ermittlungen und Feststellungen nach Kapitel 7. (2) Leistungen zur Sozialen Teilhabe sind insbesondere … 5. Leistungen zum Erwerb und Erhalt praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten, …"

Weiterhin wird dann in § 81 SGB IX ergänzend und klarstellend unter der Überschrift „Leistungen zum Erwerb und Erhalt praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten“ ausgeführt:

"Leistungen zum Erwerb und Erhalt praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten werden erbracht, um Leistungsberechtigten die für sie erreichbare Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen. Die Leistungen sind insbesondere darauf gerichtet, die Leistungsberechtigten in Fördergruppen und Schulungen oder ähnlichen Maßnahmen zur Vornahme lebenspraktischer Handlungen einschließlich hauswirtschaftlicher Tätigkeiten zu befähigen, sie auf die Teilhabe am Arbeitsleben vorzubereiten, ihre Sprache und Kommunikation zu verbessern und sie zu befähigen, sich ohne fremde Hilfe sicher im Verkehr zu bewegen. Die Leistungen umfassen auch die blindentechnische Grundausbildung."

Mithin dürfte es nunmehr eine hinreichend bestimmte Anspruchsgrundlage für die Schulung von LPF im neu gegliederten und neu verorteten Eingliederungshilferecht mit deutlich moderateren Regelungen zum Einsatz vorhandenen Einkommens und Vermögens geben, die die Bemühungen um die Schaffung einer eigenen Anspruchsgrundlage im Krankenkassenrecht, insbesondere in Form einer grundständigen Rehabilitationsleistung nach Sehverlust, zwar nicht gänzlich entbehrlich erscheinen lässt, zumindest aber den unmittelbaren Handlungsbedarf für die Etablierung eines Anspruchs auf eine wirksame und niederschwellige LPF-Schulung deutlich reduziert.

Abschließend sei noch einmal klargestellt, dass über die „Neuregelung“ hinaus aber trotzdem die oben dargestellte Empfehlung mancher gesetzlichen Krankenkassen noch gilt, d. h., dass auch durch Krankenkassen LPF-Schulungen finanziert werden können. Im Rahmen der Eingliederungshilfe hat bei Schülerinnen und Schülern im Rahmen der Schulpflicht auch die Zuordnung der Leistung zum Bereich der unterstützenden Leistungen für eine angemessene Schulbildung im Sinne von § 54 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII (a.F.) Geltung, wie die angeführte Rechtsprechung zeigt, die die Leistung der Teilhabe an Bildung im Sinne von § 112 SGB IX zuordnet, d. h., dass in diesem Bereich keine Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen erfolgen sollte.


Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift “horus” Ausgabe 4/2021 des DVBS (Deutscher Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e. V.).

Angaben zum Autor

Dr. jur. Michael Richter
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