Von Dr. Michael Richter (rbm)
Sehr deutliche Grundsätze formulierte das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz am 18.11.2010 (Aktenzeichen: 5 KR 23/10) bezüglich der anzuwendenden Regelungen für die Hilfsmittelversorgung von behinderten Schülern mit einem Hilfsmittelbedarf für den Schulbesuch. Zugrunde lag dem Rechtsstreit die Frage, wer unter welchen Voraussetzungen für die Kosten für eine notwendige “Zweitkamera” für ein Tafelbildkamerasystem einer hochgradig sehbehinderten und integrativ beschulten Schülerin aufzukommen hat.
Interessant dabei ist der Umstand, dass es sich bei der Kamera um ein handelsübliches Produkt handelte, das z. B. auch zur Überwachung von Immobilien verwendet wird. Folgende vier Grundsätze - die in jedem Hilfsmittelversorgungsfall für den Schulbesuch von behinderten Kindern Anwendung finden sollten - stellte das Gericht in Mainz auf:
“... Für die Abgrenzung zum allgemeinen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens kommt es darauf an, ob das Mittel spezifisch der Bekämpfung einer Krankheit oder dem Ausgleich einer Behinderung dient. Gegenstände, die regelmäßig auch von Gesunden benutzt werden, fallen nicht in die Leistungspflicht der Krankenversicherung ...”
Die Kamera ist so ein Gegenstand des täglichen Gebrauchs und deshalb muss die Krankenkasse auch nicht zahlen.
Das Gericht sagt, ja er muss!
“... Gemäß § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII erhalten Personen, die durch eine Behinderung im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalls, insbesondere nach Art und Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Diese Voraussetzungen sind bei der Klägerin unstreitig erfüllt. Gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII sind Leistungen der Eingliederungshilfe neben den Leistungen nach den §§ 26, 33, 41 und 55 SGB IX insbesondere Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung, insbesondere im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht und zum Besuch weiterführender Schulen einschließlich der Vorbereitung hierzu. Die Bestimmungen über die Ermöglichung der Schulbildung im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht bleiben unberührt. Gemäß § 12 Nr. 2 der Eingliederungshilfeverordnung (EinglHV) umfasst die Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung auch Maßnahmen zu Gunsten körperlich behinderter Kinder und Jugendlicher, wenn die Maßnahmen erforderlich und geeignet sind, dem behinderten Menschen den Schulbesuch im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht zu ermöglichen und zu erleichtern. Die Hilfe darf nur dann gewährt werden, wenn die Fähigkeiten und Leistungen des Behinderten erwarten lassen, dass er das Bildungsziel erreichen wird (vgl. im Einzelnen Wahrendorf, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, 2. Auflage 2008, § 54 Rdnr. 21 m.w.N.) ...”
Zwar wird ein Mittel wie die begehrte Kamera nicht in § 12 EinglHV ausdrücklich genannt, im vorliegenden Fall ist die Kamera aber erforderlich, damit die Klägerin eine angemessene Schulbildung erreichen kann.
Dazu stellt das Gericht fest:
Kein Einsatz von Einkommen und Vermögen für derartige Leistungen im Rahmen der Eingliederungshilfe.
“... Bei der Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung einschließlich der Vorbereitung hierzu ist gemäß § 92 Abs. 2 Nr. 1 SGB XII den in § 19 Abs. 3 genannten Personen die Aufbringung der Mittel nur für die Kosten des Lebensunterhalts zuzumuten. Die Leistung ist nach Satz 2 ohne Berücksichtigung von vorhandenem Vermögen zu erbringen ...”
Das Gericht sagt nein!
“... Entgegen der Auffassung des Beigeladenen kann die Klägerin auch nicht auf einen Anspruch gegen den Schulträger verwiesen werden. Nach § 74 Abs. 3 SchulG stellt der kommunale Schulträger, soweit dieses Gesetz nichts Anderes bestimmt, u. a. den Sachbedarf der Schule bereit und trägt die hiermit verbundenen Kosten. Nach § 75 Abs. 2 Nr. 8 SchulG sind Kosten nach § 74 Abs. 3 SchulG insbesondere die Aufwendungen für die Beschaffung und laufende Unterhaltung des für sonderpädagogische Maßnahmen erforderlichen besonderen Sachbedarfs (z. B. integrierte Fördermaßnahmen). Hieraus ergibt sich kein Anspruch der Klägerin gegen den Träger der Regelschule, die die Klägerin zwischenzeitlich besucht, auf Bereitstellung der begehrten Kamera ...”
Im Ergebnis hat die Klägerin also ihre “Zweitkamera” vom Sozialhilfeträger bekommen, und zwar, weil sie für den integrativen Schulbesuch notwendig war und weil es sich bei der Kamera gerade nicht um ein Hilfsmittel im Sinne der gesetzlichen Krankenkassen handelte.
Letztlich soll noch darauf hingewiesen werden, dass die dargestellten Grundsätze überall in Deutschland Anwendung finden sollten soweit es sich um behinderte Schüler handelt, welche die Schule im Rahmen der Schulpflicht besuchen (in den meisten Bundesländern 10 Jahre). Für den Zeitraum darüber hinaus, z. B. in der Sekundarstufe II, gilt zum einen die “Einstandspflicht” der gesetzlichen Krankenversicherungen für spezielle Hilfsmittel zum Schulbesuch nicht mehr und zum anderen werden Leistungen durch den Träger der Eingliederungshilfe bis zum 18. Lebensjahr dann auch nur unter Berücksichtigung des Vermögens und Einkommens der Eltern sowie des Schülers selbst gewährt. Ab der Vollendung des 18. Lebensjahres entfällt dann wieder die “Einstandspflicht” der Eltern, d. h. ab diesem Zeitpunkt werden dann deren Einkommen und Vermögen bei der Leistungsgewährung nicht mehr berücksichtigt (§ 19 Abs. 3 SGB XII), die des Schülers aber weiterhin.
Als Fazit kann man also festhalten, dass die Versorgung, so lange die Schulpflicht besteht und der Schüler noch nicht 18 ist, entweder von der gesetzlichen Krankenkasse oder dem Sozialhilfeträger übernommen werden muss, ohne dass sich die Eltern oder der Schüler an den Kosten beteiligen müssen. Wenn die Schulpflicht erfüllt ist und der Schüler ist noch nicht volljährig, wird sowohl das Einkommen der Eltern als auch das des Schülers herangezogen.
Ist der Schüler 18 und nicht mehr schulpflichtig, müssen die Eltern nicht zahlen, aber das Vermögen und Einkommen des Schülers wird aber auch in diesem Fall berücksichtigt.
Als Zeitpunkte für einen Antrag auf Versorgung mit Hilfsmitteln für den Schulbesuch gibt es also gute, schlechte und mittelprächtige Zeiten (und zwar in dieser Reihenfolge und je nach Einkommens- und Vermögenslage).
Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift “blista News” Ausgabe August 2011 der Deutschen Blindenstudienanstalt e. V.).
Dr. Michael Richter
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